Die tragische Geschichte von Schmiedja

In einem steilen Tal, wo der Wind vom eisigen Gletscher her fegt, stand eine von der Bergsonne schwarzgebrannte Holzhütte.
Vor vielen, vielen Jahren hatte dort ein junges Paar sein Vieh gesömmert. Es war eine schöne und glückliche Zeit. Der Mann sammelte Wildheu in der Scheune, das im Winter zu Tal geschlittelt wurde. Die Frau überwachte ihr Kind, das stundenlang vor der Haustür spielte, sah dann und wann nach dem Vieh und ging geschäftig zwischen Stübchen und Küche auf und ab. Doch eines Tages legte sich ein Schatten auf das Glück, obwohl die Sonne strahlend am Himmel stand. Der Kleine wollte nicht essen. "Er hat die Sucht", sagte die Mutter und ihre Stimme zitterte. Eine Frau, die auf einer nahen Alp ihren Sommerhaushalt führte, hatte ihr erzählt, es gehe ein böses Halsleiden um, an dem viele Kinder ersticken. Der Vater sammelte Heilkräuter, die Mutter kochte sie zu warmen Umschlägen, aber es half so wenig wie ihre Tränen. Das Kind starb.
Nie mehr bekam die Frau ein zweites Kind, und Unversehens waren die beiden alt geworden. Der Mann konnte nicht mehr dem Wildheu nachgehen, und eines Morgens, mitten im Sommer, stand er nicht vom Lager auf, und siechte rasch dahin.
Bald sprach es sich von Alphütte zu Alphütte "ds Schmied Toni isch tot".

Die Witwe wurde von dem Tag an nur noch die alte Schmiedja genannt. Sie wollte nicht mehr ins Tal hinunter. Oben, auf ihrer Alp, spann sie für Nachbarinnen, denen die Kinder und das Vieh keine Zeit dazu liessen, Sommer und Winter lang Flachs und Schafwolle. Dafür erhielt sie Dörrfleisch, Käse und Schwarzbrot. Die Buben schleppten vom nahen Wald grosse Stapel Brennholz herbei und schichteten es vor der Hütte auf.

"Habt Ihr denn keine Angst vor dem Gratzug, der Totenprozession, die hier vorbeizieht?" fragte eine Frau beim Abschied am Ende des Sommers. Nein, sie hatte keine Angst.

Abend für Abend spann sie beim Schein einer Talgkerze bis spät in die Nacht hinein und betete dabei für die armen Seelen, welche am nahen Gletscher für ihre Sünden büssten. In Dunkel und Frost, in Sehnsucht, dass ein Licht ihnen leuchte.
Die alte Schmiedja verriegelte die Haustüre nicht. In Quatembernächten und besonders im Winter- und Christmonat ging sie etwas früher zu Bett, öffnete das Schiebefenster und rief: "Ihr könnt hereinkommen, aber ohne Leid für mich." Die Irdischen ertragen sonst die Abgeschiedenheit nicht, das wusste sie. Sofort hörte sie, wie ein Windstoss die Türe aufriss. Dann wogte es herein wie Nebelschwaden, drängte sich um den warmen Ofen, huschte über den Boden, bis der hinterste Winkel voll war. Erst wenn drunten im ersten Weiler die Morgenglocke erklang, schwebten die Schatten zur Tür hinaus.

Sommer reihte sich an Winter, Winter reihte sich an Sommer.

Eines Abends legte die Frau, ohne zu überlegen, etwas mehr Werg an die Kunkel. Als sie zur gewohnten Zeit nicht öffnete, rief es unheimlich von draussen "Schoch (es ist kalt), d alt Schmiedja spinnt noch." Sie achtete sich nicht und spann weiter. Da ertönte der Ruf zum nächsten Mal, schmerzlicher, flehender. Etwas ungeduldige öffnete sie die Scheibe und sagte :"So tretet ein, wenn ihr nicht warten könnt." Da strömte es zur Tür herein, unaufhörlich, bis sich die Frau an ihrem Spinnrad nicht mehr zu bewegen vermochte, und ihr schien, als könnte sie nicht mehr atmen. Es geschah ihr zwar kein Leid, aber sie vergass ihr Sprüchlein "ohne Schaden für mich" kein zweites Mal.

So reihte sich Winter an Sommer und Sommer an Winter.

Eines Nachts, zu Beginn des Wintermonat, hörten einige Männer, die in der Nähe am Holzen waren, wie jemand rief: "Schoch, d alt Schmidja läbt ja noch". Sie traten näher und sahen eine Prozession von Lichtlein, die vom Gletscher zum Häuschen der einsamen Frau reichte. "Sie ist krank, die armen Seelen eilen ihr zu Hilfe", sagten die Männer zueinander. Keiner aber hatte den Mut hineinzugehen. Die kleinen Fenster der Hütte wurden taghell. Ein letztes Mal eingeladen, sich in der Stube zu wärmen, trug jede arme Seele eines der ungezählten Lichtern herzu, die für sie gebrannt hatten. Die Sterbende lächelte dankbar und ging ohne Todeskampf in die Anderswelt.

Noch heute können unerschrockene Nachtwanderer zu gewissen Zeiten den "Gratzug" (Zug der armen Seelen) über den Gletscher gehen sehen.

 

Bild: Freifrouw Silva von Bärenfall zu Steimur, Odinsdottir

Text: Freifrouw Silva von Bärenfall zu Steimur, Odinsdottir